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Über Staaten und deren Regierungen haben wir alle schon viel gehört. Sei es in der Schule oder im Gespräch mit Freunden und Bekannten. Aber: Was macht eigentlich einen Staat zu einem Staat?
Hallo und herzlich willkommen bei Government Geeks. Heute mit der Frage: Wann ist ein Staat ein Staat? Oder: Warum das Fürstentum Sealand wahrscheinlich kein Staat ist.
Als im Zweiten Weltkrieg ca. zehn km vor der englischen Küste eine Kette von Festungsplattformen im Meer erbaut wurde, ahnte noch niemand, dass eine dieser Plattformen einmal internationales Aufsehen erregen würde. Und in der Tat wurden sie nach Ende des Kriegs zum Niemandsland, da das britische Hoheitsgewässer nur drei Meilen weit ins Meer hineinreicht.
Bis … ja … bis der britische Ex-Offizier Paddy Roy Bates im Jahr 1967 dort einen Staat ausrief, den er Sealand nannte, sich selbst zum Staatsoberhaupt krönte und eine Verfassung erließ. Heute hat Sealand eine eigene Währung, Briefmarken, eigene Pässe, eine Nationalhymne und eine bewegte Geschichte – inklusive eines Putschversuchs. Im Laufe der Jahrzehnte haben über hundert Personen die Sealändische Staatsbürgerschaft erworben, 30 bis 40 von ihnen leben vor Ort.
Seit Staatsgründung befindet sich Sealand immer wieder im Mittelpunkt des Interesses von Medien, Politik und der internationalen Gerichtsbarkeit. Allem voran stellte und stellt sich hierbei die Frage: Handelt es sich bei Sealand tatsächlich um einen Staat? Und vor allem: Was macht eigentlich einen Staat zu einem Staat?
In gewisser Weise genügt es, wenn ein Staat sich selbst als solcher begreift. Wenn du in deinem Vorgarten oder eben auf einer verlassenen Plattform im Meer einen Staat ausrufst, dann kannst du auf dem Staatsgebiet deines Vorgartens oder deiner Plattform so handeln wie ein eigener Staat. Sobald du aber in internationale Beziehungen mit anderen Staaten treten möchtest, wird es deutlich komplizierter und eine Begriffsbestimmung wird nötig.
Diese Staatsfrage steht schon seit vielen Jahrhunderten im Zentrum des Diskurses vieler Staatstheoretiker und Philosophen. Für die heutige juristische Definition ist jedoch vor allem die Drei-Elemente-Lehre des österreichischen Staatsrechtlers Georg Jellinek aus dem Jahr 1900 maßgeblich. Dieser definiert den Staat über folgende Kriterien:
1. die Staatsgewalt,
2. das Staatsgebiet und
3. das Staatsvolk.
Als Staatsgewalt kann die originäre Herrschaftsmacht über das Gebiet und die dort befindlichen Personen verstanden werden. Was hier kompliziert klingt, bedeutet die Fähigkeit, verbindliche Anordnungen zu treffen – und eben auch durchzusetzen.
Dabei ist es entscheidend, dass die Staatsgewalt unabhängig von anderen inneren und äußeren Gewalten ausgeübt wird, also originär ist. Demzufolge kann Staatsgewalt nicht von anderen Instanzen abgeleitet werden.
Beispielsweise besitzt die EU keine originäre Staatsgewalt, da ihr die Hoheitsrechte zur Gewaltausübung freiwillig von den Mitgliedsstaaten übertragen wurden und ihr auch jederzeit wieder genommen werden können.
Die Herrschaftsform spielt bei der Frage nach der Staatsgewalt übrigens keine Rolle – es ist unerheblich, ob eine totalitäre Diktatur betrachtet wird, bei der Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, oder eine Vorzeigedemokratie. Die Staatsgewalt muss sich nicht an Moral halten.
Sealands Staatsgewalt ist unstrittig: Roy Bates hat klare Herrschaftsstrukturen geschaffen und eine von Sealands Bürgern anerkannte Verfassung formuliert. Eine originäre Machtstruktur ist somit erkennbar.
Unter dem Begriff Staatsgebiet wird gemeinhin ein abgegrenzter, natürlicher Teil der Erdoberfläche verstanden. Dabei ist aber nur das Kerngebiet entscheidend. Grenzstreitigkeiten spielen bei der Frage nach einem Staat keine Rolle. Damit erscheint dieses Kriterium grundsätzlich ziemlich einfach.
Wirft man aber einen Blick auf Sealand, erkennt man bereits das Problem: Ist eine im Meeresboden verankerte Plattform ein Staatsgebiet? Wohl eher nicht. Immerhin handelt es sich dabei nicht um einen natürlichen Teil der Erdoberfläche. Denkt man den technischen Fortschritt aber nur etwas weiter, dann ergeben sich hier plötzlich neue Probleme: Was wäre beispielsweise mit einem Staat auf dem Meeresgrund? Oder auf dem Mars? Ist das Kriterium des Staatsgebiets dabei zu veralten?
Als Staatsvolk wird im engeren Sinne ein auf Dauer angelegter Zusammenschluss von auf dem Staatsgebiet lebenden Personen definiert. Die Menschen sind dann einerseits rechtlich mit dem Staat verbunden – etwa durch ein Staatsangehörigkeitsgesetz. Andererseits sind sie aber auch untereinander verbunden – etwa durch ihr Staatsbewusstsein. Die ethnische Herkunft spielt hingegen keine Rolle. Es handelt sich vielmehr um einen Status, der wechselseitige Rechte (z.B. Wahlrecht) und Pflichten (z.B. Wehrpflicht) mit sich bringt.
Im Falle Sealands urteilten die Juristen am 3. Mai 1978, dass kein Staatsbewusstsein vorhanden sei, da das Zusammenleben bereits vom Staatsgebiet her nicht auf Dauer angelegt sei. Es handele sich vielmehr um einen auf rein wirtschaftliche Interessen beschränkten Zusammenschluss – also keine Schicksalsgemeinschaft, wie sie durch die gemeinschaftliche Bewältigung des Lebensalltags entstehe – beispielsweise in den Bereichen Bildung oder soziale Sicherung. Sealand besitzt also kein Staatsvolk.
Die Bevölkerung Schottlands, die bekanntermaßen eine aktive Unabhängigkeitsbewegung besitzt, bildet hierfür ein passendes Gegenbeispiel: Wer würde der schottischen Bevölkerung unterstellen, keine Schicksalsgemeinschaft zu bilden?
Aber was ist nun mit unserem Beispiel Sealand? Bei Betrachtung der drei Kriterien fällt auf, dass Sealand im völkerrechtlichen Sinne kein Staat zu sein scheint – Diskussion sinnlos. Und dennoch wird auch heute noch über diese Frage gestritten. Aber wie kann das sein, wenn doch die Kriterien so schön klar sind?
Das hängt damit zusammen, dass die Entstehung von Staaten deutlich komplizierter ist, als es hier den Anschein zu hat: Staaten entstehen zum einen durch Neugründung auf staatenlosem Gebiet, was heutzutage aber eher unrealistisch erscheint. Zum anderen kann ein neuer Staat durch Abspaltung von einem bereits bestehenden Staat entstehen, was in der Regel aber nicht ohne Konflikt abläuft. Auch die Bundesrepublik Deutschland wird die Abspaltung deines Vorgartens wohl eher nicht konfliktlos hinnehmen. Und letztlich können Staaten durch den Zerfall eines Staatenbundes entstehen, was oft zu heillosem Chaos führt. Ein Beispiel ist der Zerfall Jugoslawiens.
All diese so neu entstehenden Staatenanwärter müssen international aber auch als solche wahrgenommen werden. Hilfreich, wenn auch nicht notwendig, ist hier die Aufnahme in die Staatenliste der Vereinten Nationen. Aber nun wird es vollends kompliziert: Was passiert mit einem neu gegründeten Staat, der alle Kriterien erfüllt, von der Staatengemeinschaft aber als solcher nicht anerkannt wird? Ist das dann kein Staat?
Und in der Tat gibt es derzeit eine Vielzahl von Gebieten und Ländern mit unklarem Status: Man denke nur an Palästina, das von 72 Prozent der Mitglieder der Vereinten Nationen anerkannt wird. Und hier wird deutlich, dass eben nicht bloß die Beantwortung der drei Kriterien relevant ist.
Die vielleicht größte Hürde liegt wohl im politischen Willen innerhalb der Staatengemeinschaft. Ohne mächtige Fürsprecher werden fragile Staatsgebilde schlichtweg ignoriert – und diese potenziellen Fürsprecher handeln oftmals strategisch im ganz eigenen Interesse. Und so wird die Frage nach dem Vorhandensein eines Staats oft genug zu einer Frage von Macht, für deren Beantwortung nicht zuletzt das Vorhandensein einer ausreichend großen Armee entscheidend ist. Oder um mit Charles Tillys Worten zu enden: War made the state – and the state made war.